Das Ziel beim Spielen einer Etüde ist es, eine spieltechnische Schwierigkeit zu überwinden und so die eigenen Fertigkeiten auf dem Klavier zu verbessern. Der Experte und Klavier-Professor Wolfgang Zill erklärt Ihnen im Interview alles, was Sie zu Klavieretüden wissen müssen. Außerdem verrät er Ihnen die schönsten Stücke für Anfänger- und Profi-Spieler.
Was sind Etüden fürs Klavier?
Das Wort Etüde kommt aus dem Französischen („étude“) und bedeutet eigentlich „Studie“ oder „studieren“. Die Besonderheit von Etüden-Stücken ist, dass in ihrem Mittelpunkt eine spieltechnische Problemstellung oder eine Schwierigkeit steht. Diese wird darin meist häufig wiederholt und tritt in Sequenzen auf.
Der Unterschied zur klassischen Übung
Dabei ist es aber wichtig, zwischen klassischen Übungen und Etüden zu unterscheiden, findet Professor Wolfgang Zill: „Anders als die klassischen Übungen haben Etüden eine harmonische Struktur und können die Tonarten wechseln.“
Das übergeordnete Ziel ist also ein anderes, sagt der Experte: „An einer Etüde lernt man eigentlich nicht direkt die Technik, sondern trainiert vielmehr deren Anwendung, man fokussiert spieltechnische Probleme und verbessert die Kondition.“
Ohne jegliche Vorerfahrung und klassische Übungen macht das Spielen der Etüde aus der Sicht des Pianisten aber keinen Sinn: „Wird eine Klaviertechnik zuvor nicht grundlegend, also mit Verständnis und System aufgebaut, wird auch keine Etüde helfen können“, gibt Wolfgang Zill zu bedenken. „Denn die Etüde ist letztlich ein Klavierstück mit Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Das bedeutet, dass vor der Etüde immer die Übung steht.“
Problemstellungen in Klavieretüden
Mögliche Problemstellungen in Etüden für das Klavier sind zum Beispiel Terzläufe, Akkordspiele, Glissandi, Geläufigkeit, Staccato oder die Unabhängigkeit der Hände. Durch das Spielen der auf das spezifische Problem ausgelegten Etüde können Klavierspieler diese Schwierigkeiten gezielt proben.
Klavieretüden dienen letztlich also dazu, dem Musizierenden zu größeren Fertigkeiten auf seinem Instrument zu verhelfen, seine Technik zu verbessern und sich musikalisch weiterzuentwickeln.
Die Entwicklung der Etüde in der Klaviermusik
Klavierstücke, die damals zwar noch nicht als Etüden bezeichnet wurden, aber die Funktion für gewisse technische oder musikalische Probleme hatten, sind schon fast seit Beginn der Klaviermusik gespielt worden.
Die Klavieretüde im 18. & 19. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert entstanden erstmals sogenannte Handstücke, die die rein technischen Übungen im Klavierunterricht ergänzten. Klavierlehrer schrieben diese Handstücke zum Teil explizit für die Bedürfnisse und Probleme ihrer Schüler.
Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts löste der Begriff Etüde die Bezeichnung Handspiel schließlich ab. Er entwickelte sich zunächst als Bezeichnung für Sammlungen von Musikstücken, die der umfassenden spieltechnischen Ausbildung auf einem Musikinstrument dienen. Später wurde der Begriff auch auf einzelne Stücke und technisch anspruchsvolle Klavierkompositionen zum Konzertgebrauch ausgeweitet.
Wichtige Wegbereiter der heutigen Etüden waren Carl Czerny, Franz Liszt, Frédéric Chopin und Robert Schumann. In der weiteren Entwicklung der Etüde hatten manche Komponisten das Ziel, in ihren Etüden neben spieltechnischen auch kompositorische Probleme zu bearbeiten.
Die Chopin-Etüden
Frédéric Chopin revolutionierte die Klavieretüde in technischer, musikalischer und gesellschaftlicher Hinsicht, indem er sie erstmals öffentlich vortrug und sie damit kunst- und salonfähig machte: „Chopins Etüden waren damit zum einen die ersten Vertreter der Gattung ‚Konzertetüde‘ und zum anderen beinhalten sie nahezu alles, was das Klavierwerk Chopins ausmacht“, sagt Wolfgang Zill.
Neben ihrem ursprünglichen Sinn entwickelte sich die Etüde im Laufe des 19. Jahrhunderts damit auch zu einem spieltechnischen Meisterstück, durch das Pianisten dem Publikum ihre Fertigkeiten zur Schau stellten.
Etüden fürs Klavier heute
Heute gibt es für das Klavier Etüden-Werke unterschiedlichster Art und für alle Schwierigkeitsstufen – vom Anfänger bis hin zum Virtuosen. „Das Spektrum reicht – etwa von den einfacheren Czerny-Etüden op. 599 oder op. 139 bis zu den bekannten Konzertetüden von Chopin, Liszt, Skrjabin, Debussy, Rachmaninow und Ligeti“, erklärt Klavierexperte Wolfgang Zill. „Grundsätzlich unterscheiden sie sich in Hinblick auf Stil, Schwierigkeit, Länge und Zweck.“
Schöne Klavieretüden für Anfänger
Bereits für Anfänger auf dem Klavier gibt es verschiedene Etüden-Stücke, durch deren Üben angehende Pianisten ihre musikalische Leistung steigern können. „Für mich sind die Czerny-Etüden op. 821 nach wie vor wunderbar und auch relativ lange im Klavierunterricht nutzbar“, empfiehlt der Klavierlehrer Wolfgang Zill. Das gefällt ihm an ihnen besonders: „Sie sind musikalisch reizvoll, mit nur acht Takten von ermutigend knappem Umfang und progressiv angeordnet.“
Die Carl-Czerny-Etüden op. 821 gespielt auf dem Klavier.
Für Klavierschüler, die eine Schwierigkeitsstufe aufsteigen wollen, hat Wolfgang Zill folgenden Tipp: „Den Übergang zu den großen Konzertetüden können die Cramer-Bülow-Etüden und die Moszkowski-Etüden op. 72 besonders gut bilden.“
(von leicht bis schwer geordnet)
- Gertrud Keller: Die ersten Etüden, Die nächsten Etüden
- Carl Czerny: Erster Lehrmeister, op. 599
- Carl Czerny: 100 Übungsstücke, op. 139
- Johann Wilhelm Häßler: Der Tonkreis
- Friedrich Burgmüller: 25 leichte Etüden, op. 100
- Stephen Heller: 24 Etüden für die Jugend, op. 125
- Stephen Heller: 25 melodische Etüden, op. 45
- Carl Czerny: 160 kurze Übungen, op. 821
- Johann Baptist Cramer: 60 Etüden
- Muzio Clementi: Gradus ad Parnassum
- Carl Czerny: 40 tägliche Übungen
- Carl Czerny: Kunst der Fingerfertigkeit, op. 740
Schöne Klavieretüden für Profis
Wer schon zu den Klavierprofis gehört, hat natürlich ganz andere Möglichkeiten, was die Auswahl an Etüden-Stücken angeht. Trotzdem ist es nicht immer einfach, die richtige Etüde für seine spezielle Problematik zu finden.
Auf die Frage nach den bekanntesten oder schönsten Etüden für Profi-Klavierspieler, antwortet Wolfgang Zill: „Das lässt sich nur individuell beantworten. Denn es kommt dabei zum einen auf das musikalisch-künstlerische Interesse des Spielers an, zum anderen auch auf seine spieltechnischen und intellektuellen Möglichkeiten beziehungsweise Grenzen.“ Jeder Spieler sollte sich deshalb gezielt die für ihn passenden Etüden-Stücke auswählen.
Die Konzertetüden „Trois Nouvelles Études“ von Frédéric Chopin, gespielt von Martha Goldstein.
Grundsätzlich hätten insbesondere Konzertetüden ein besonderes künstlerisches Niveau, sagt Experte Wolfgang Zill: „Die Herausforderung an den Spieler ist es dabei, sie am Ende nur noch nach Musik und nicht nach einem ‚schwierigem Stück‘ klingen zu lassen.“
Wir bedanken uns bei Wolfgang Zill herzlich für das interessante Interview!
Klavieretüden für jedes Level
Sind Sie motiviert und wollen sich jetzt selbst an den wichtigen und schönen Etüden versuchen? Ob Anfänger, Fortgeschrittener oder Profi-Klavierspieler, in unserem Online-Shop finden Sie Klavieretüden für jedes Level.
Oder suchen Sie nach weiteren tollen Tipps für den Klavierunterricht? Dann stöbern Sie gerne in unserem Magazin: Dort finden Sie spannende Informationen, zum Beispiel zu Motivation im Klavierunterricht oder Konzertpädagogik. Außerdem können Sie verschiedene Künstlerportraits wie das des italienischen Pianisten Ludovico Einaudi entdecken.
Viel Spaß beim Stöbern!
Bildnachweis:
Titelbild: © gettyimages/fermate, Bild 1: © Wolfgang Zill, Bild 2: © gettyimages/monkeybusinessimages, Bild 3: © gettyimages/SunnyGraph, Bild 4: © gettyimages/malerapaso.